Krise der Sprache - Sprache in der Krise
Was bedeutet Krise der Sprache bzw. Sprache in der Krise?
Für mich bedeutet Krise der Sprache erst einmal, mich bei meinem Schreiben an einer Grenze entlang zu bewegen: An der Grenze des Sag- bzw. Schreibbaren. Denn für vieles gibt es gar keine Worte, höchstens grobe Festlegungen. Beispielsweise ist das bei Gefühlen oder Gerüchen der Fall. Wie beschreibe ich einen Duft einer Person, die ihn nicht kennt? Wie ein Gefühl einem Menschen, der es nicht teilt? Welche Worte kann ich dafür finden, wenn sie noch nicht erfunden sind? Es gibt eigentlich nur zwei mir bekannte Wege: Umschreibungen und Metaphern, also verschlüsselte Bilder für etwas ganz anderes. Eine bekannte Metapher ist z.B. Wüstenschiff = Kamel. Nur, wer die Bedeutung des ursprünglichen Zusammenhangs kennt, versteht das Bild. Oder wer den Ausgangspunkt der Umschreibung weiß, versteht auch ihren (Um-)Weg bis hin zu dem, was die schreibende Person vermutlich ausdrücken möchte. Deshalb ist das Verstehen von Lyrik oft so schwierig, wenn man den Ausgangsgedanken nicht kennt oder nachvollziehen kann. Dann bleibt nur die Interpretation, also die Vermutung und Spekulation: Was könnte die Schreibende damit gemeint haben? Was war wohl die ursprüngliche Bedeutung dieser Metapher? Das ist dann der Job der Literaturwissenschaft und ihrer spekulativen Diskussionen - oder von interviewenden Journalisten, falls die*der Autor*in noch am Leben ist. Genau das ist für mich bei anderen Schreibenden das Spannende: Was steckt hinter den bloßen zu lesenden Worten? Was könnte herauskommen, wenn man die Chiffre entziffert, gewissermaßen den Code geknackt hat? Am besten tut man das gemeinsam. Denn auch das Verklausulieren, also das Schreiben selbst, ist manchmal ein ziemlich komplizierter Vorgang. Oft mache ich das nicht einmal besonders bewusst und absichtlich. Dann stehe ich hinterher da und staune über das, was meine Finger da in die Tastatur geschickt haben und von dem ich gar nicht vorher wusste, dass es in mir steckt. Ich öffne mich oft einfach innerlich und lasse die Worte kommen - und plötzlich steht etwas da, von dem ich gar nicht geahnt habe, dass es herauskommen wollte. Es ist oft ein Gefühl, als hätte nicht ich das geschrieben, sondern etwas oder jemand anderes, eine andere Persönlichkeit, durch mich hindurch die Gedanken und Finger bewegt. Als wäre ich nur die Mittlerin und nicht die schreibende Urheberin. Natürlich ist das nicht immer so und oft füge ich hinterher noch etwas hinzu oder feile an Formulierungen. Aber besonders das Um- oder Beschreiben von Gerüchen, Tasteindrücken oder Emotionen ist wirklich eine Herausforderung für mich. Ich würde nicht unbedingt sagen, dass es da um eine wirkliche Krise der Sprache geht, sondern eher um eine Grenze, an der entlang ich mich vorsichtig bewege, um herauszufinden und auszuloten, was noch ausgedrückt oder umschrieben werden kann und wo die Worte aufhören, Ausdrucksmöglichkeit sein zu können. Es gibt Zustände, für die ich nur schwer Worte finde und bei denen alle Worte nur vage Annäherungsversuche und mühsame Stolperschritte in Richtung auf etwas jenseits der Sprachfähigkeit darstellen. Zum Beispiel eine Art Schweben jenseits von Raum und Zeit, jenseits von Persönlichkeit, Ich-Empfinden und jeglicher Wertungsversuche. Wie beschreibt man dieses Aufgehen in einer Art Fließen, einem warmen, zufriedenen Moment, in dem es weder Vergangenheit noch Zukunft noch Gegenwart gibt, sondern nur dieses Da-Sein, dieses völlige Vergessen von allem um dich herum und Verschwinden in einer lichten Heiterkeit, die aber nicht mehr definiert wird, das völlige Ausblenden von Gedanken und Gefühlen? Wie kann ich vermitteln, wie sich das wirklich anfühlt, mit dem Velomobil über einen sonnen- und schattenüberfluteten Parkweg zu rasen oder wild zu tanzen und doch nichts mehr von dir wahrzunehmen? Alle Geräusche gehen in deinem Körper auf und du bist als Person nicht mehr vorhanden, auch wenn du dich trotzdem weiter heftig bewegst. Du spürst deinen Körper nicht einmal mehr bewusst. Du nimmst nichts mehr bewusst wahr und bist für einen Augenblick irgendwo im Nirgendwo, aber ganz sicher nicht hier und jetzt, präsent und doch nicht da. Versteht ihr das Dilemma?: Wenn es ein Mensch nicht selbst erlebt hat, würde sie oder er es nicht verstehen, was ich hier stammelnd zu erklären versuche. Und ich könnte noch so viele Worte dafür finden, es würde mir nicht gelingen, einen Eindruck davon zu vermitteln. Oder eine andere Person würde vielleicht ganz andere Worte und Umschreibungen wählen. Das löst für mich eine solche Ratlosigkeit oder sogenannte Krise oder Schreiblockade aus, dass ich manchmal über Wochen und Monate überhaupt nicht schreiben kann oder mag, weil ich das Gefühl habe, dass es mir sowieso nicht gelingen wird, das, was ich in mir trage oder erlebt habe, auch nur annähernd zutreffend auszudrücken oder in Worte zu fassen, mit denen ich es anderen zugänglich machen kann, eine Sprache für das zu finden, wofür es eigentlich gar keine Worte gibt. Ich muss die Worte entweder neu erfinden, sie wie recyceltes Papier aus schon Vorhandenem schöpfen, Umschreibungen, Eselsbrücken und Pferdefüße finden oder poetische, blumige, verschlüsselte Bilder "malen" oder es ganz sein lassen und verstummen, weil mir der Versuch zu ungeschickt, stolpernd und stümperhaft erscheint. Wie ein Haus, das auf Sand gebaut ist und dessen Grundlage allmählich wegbröckeln wird. So kommt es mir manchmal vor. Auch wenn selbst das, ähnlich wie alles andere nur ein Bild, eine parallele Darstellung von einem Gefühl ist, das ich eigentlich nicht wörtlich darstellen kann, weil es, wie bei Gerüchen, sehr tief in mir drin steckt und unbewusst abläuft. Wörter wie Liebe, Freude, Wut oder Trauer sind nur Festlegungen für etwas sehr viel Größeres, Allumfassenderes und Komplexeres. Jemand anderes wird vielleicht eine ganz andere Vorstellung von diesen Empfindungen haben als ich, andere Erlebnisse damit verbinden und folglich ganz andere Worte dafür wählen. Nur ein Beispiel: Ich liebe Zimt- und Zitronenduft. Ich kann mir fast nichts Köstlicheres vorstellen. Deshalb schwelge ich in der Beschreibung dieser Düfte. Anderes wie Banane oder Honigmelone oder gar Kohl kann ich als Geruch absolut nicht ausstehen. Andere Menschen würden dafür vielleicht schwärmen. Ich liebe viele Naturgerüche wie das Meer, Regen oder die Unterschiede von Pflanzen in der Sonne und im Schatten. Das riecht nämlich komplett anders und manchmal kann ein Schritt ausreichen, um die Gerüche, die in deiner Nase sind, vollkommen zu verändern. Wer achtet in seiner Umgebung schon sonderlich auf Gerüche? V.a. wenn Geräusche und Bilder da sind, die einen viel mehr ansprechen? Ich habe oft keine Wahl - wenn ich nichts tasten oder innerlich spüren kann, bleiben mir häufig fast nur die Nase und der Geschmacksinn. Nicht vollkommen, aber hauptsächlich. Und ohne sie wäre mein Leben sehr viel ärmer.Was nun die Sprache in der Krise angeht, sollte man sich zuerst bewusst sein, dass Krise eine schwierige Ausgangslage mit Lösungspotential ist. Ursprünglich hat sich diese Definition im Dritten Reich herausgebildet (vgl. LTI von Victor Klemperer). D.h. ursprünglich war "Krise" ein Euphemismus: Wir stecken in einer Krise, aber es gibt Lösungspotential (Zweiter Weltkrieg). D.h. ursprünglich war der Begriff Krise eine Verschleierung der eigentlich vorhandenen ungünstigen Tatsachen. Heute hat sich die Bedeutung ein wenig verschoben, aber dieses Lösungspotential ist immer noch ein bisschen vorhanden, wenn man von Krise spricht, z.B. Midlife Crisis - eine Phase im Leben, in der es einem dreckig geht, die geht aber vorbei und muss eben ausgehalten werden. Es könnte auch von Corona-Krise gesprochen werden: Eine schwierige Zeit für alle in einer (globalen) Gesellschaft, die aber (irgendwann) vorübergehen wird. "Nur Geduld, das bleibt nicht ewig." ist die Botschaft. Die Midlife-Crisis ist zwar de facto eine gesellschaftliche Krise, betrifft aber jede einzelne Person oder manchmal eben auch nicht. Es kann passieren, muss aber nicht, ist nur häufig in einer bestimmten Lebensphase vorkommend. Man kann also nicht unbedingt behaupten, dass es da eine Sprache der Krise gibt, da es sich zwar um ein gesellschaftlich akzeptiertes, aber doch meist individuelles Phänomen handelt.
In der Corona-Krise ist das deutlich anders: Hier betrifft es im Prinzip jeden in der Gesellschaft, vielleicht sogar weltweit. Insofern bildet sich hier auch ein neuer Sprachgebrauch, entstehen neue Wörter, verändert sich sogar das Sozialverhalten. Der Mund-Nasen-Schutz wird im Prinzip allgegenwärtig, das Social Distancing zur neuen Norm oder gesellschaftlich vorgeschriebenen Verhaltensform, Abstandsregeln, Desinfektionsmittel und Handschuhe zum neuen Outfit der sich korrekt verhaltenden und rücksichtsvollen Bürger*innen. Der Corona-Pakt und Notfallfonds bekommen wirtschaftliche Relevanz. etc. Es bildet sich also eine Art Krisensprache, die aus bestimmten Begriffen besteht, die vor oder zu Beginn der Krise noch nicht von Bedeutung waren, die erst neu geschaffen werden mussten oder neue Schwerpunkte bekommen haben, da sie plötzlich inflationär häufig benutzt werden. Insofern stellt sich auch neu die Frage, was man überhaupt noch ausdrücken kann oder "darf", welche Themen gesellschaftlich relevant sind und welche eher in den Hintergrund treten.
Insofern schließt sich gewissermaßen der Kreis aus ineinander verschränkter Beziehung des individuell Gesagten oder Schreib- und Sagbaren und des gesellschaftlich relevanten Sprachgebrauchs, die wechselseitig ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen. Insofern bildet sich hier eine Wechselwirkung zwischen individuell und gesellschaftlich krisenbezogener Sprache und Krise der Sprache. Die Frage bleibt aber bestehen, wo die Lösung dieser verschiedenen Krisen sich finden lässt, wie man beispielsweise alternative Sprachformen in der Krise finden oder die Grenze der sprachlichen Krise und des in verbalen bzw. schriftlichen Ausdrücken möglichen Neuschöpfungen bestehenden Sprachstils abstecken kann. Hier sind wir wieder beim individuellen Sprachgebrauch und kreativen Ausdruck jede*s Einzelnen. D.h. letztendlich ist Sprache und Sprachgebrauch in welcher Krise auch immer v.a. eine individuelle Entscheidung, die allerdings trotzdem nicht unwesentlich gesellschaftlich beeinflusst und geprägt wird. Insofern ist es die Verantwortung jedes Individuums, mitzubestimmen, wie der individuelle und gesellschaftliche Sprachgebrauch mitbeeinflusst und gestaltet wird, da gesellschaftlich geformte (und genormte) Sprache immer aus dem Sprachgebrauch und der Mitgestaltung von Sprache aller einzelnen Nutzer*innen zusammengesetzt und folglich auch von ihnen mit beeinflussbar ist. D.h. jede einzelne Person hat eine Verantwortung, Verpflichtung und kreative Möglichkeit, Sprache zu verändern, neue Worte zu kreieren und alte anders zu bewerten. Deshalb wollen wir jetzt versuchen, unsere Gefühle in Worte zu fassen, aus dieser Reflexion Slogans und Buttonaufschriften zu formen und die entstandenen Botschaften und Forderungen am Schluss in ein sowohl fühl- als auch sichtbares Banner zu übertragen, so dass sie auch auf politischen Veranstaltungen verwendet werden können.
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